Herausforderung Angehörigenpflege

Wie herausfordernd es ist, für Menschen da zu sein, weiss jeder, der schon einmal einen kranken Menschen im Haushalt hatte. Wenn uns selbst schon eine Grippe des Partners an den Anschlag bringt, können wir uns kaum in die Situation von Angehörigen versetzen, die Pflegeleistungen über Jahre für Ihre Familie erbringen.

Insgesamt rund 80 Millionen Stunden unbezahlte Arbeit werden jährlich für die Betreuung und Pflege von nahestehenden Personen in der Schweiz geleistet. (Quelle: https://www.angehoerige-pflegen.ch)

Eine Herausforderung für beide Seiten

Menschen die Angehörige pflegen brauchen eine ganz besonders lange Ausdauer. Die Überforderung ist immer im Hintergrund präsent und die Aufgaben wachsen stetig an. Nicht nur die körperliche Leistung dieser Menschen ist beachtlich auch die psychische Belastung durch die Konfrontation mit der Hilflosigkeit einer geliebten Person ist zermürbend. Genauso wie der kranke Angehörige mit der neuen Situation kämpft, tut es auch das Umfeld.

Aus dem Partner wird ein kranker Mensch

Dabei ist es schnell passiert, dass die geliebte Person zur kranken Person wird. Was meine ich damit? Wenn ein Mensch krank wird, steht er vor der Aufgabe dieses Schicksal auch anzunehmen. Dieses Annehmen gelingt manchen Menschen sehr gut und sie können sich der neuen Realität in relativ kurzer Zeit anpassen. Diese Menschen schaffen es, weiterhin den Blick auch auf ihr Umfeld zu richten. Sie helfen mit, die Umstände der Pflege und Betreuung erträglicher und weniger belastend zu gestalten.

Andere Menschen werden zur kranken Person. Das heisst, sie definieren sich mehr und mehr durch die Krankheit. Das Umfeld unterstützt diesen schädlichen Wandel mit seinem Engagement. Es gibt ganz viele Angehörige die dem Menschen mit Beeinträchtigung nach und nach alles abnehmen was nur irgendwie zu tun wäre. Bei dieser Hilfsbereitschaft wird völlig übersehen, dass der Mensch nicht nur eine kranke Person ist, sondern, dass dieser Mensch weitere Anteile hat, die nicht krank oder eingeschränkt sind. Je länger diese gegenseitige Auffassung gepflegt wird: « ich bin krank – du bist krank», umso schwieriger wird es, zu einem normalen Umgang miteinander zurückzufinden.

Demenz

Du bist meine Aufgabe

Wird der Mensch nur durch die Brille des Pflegenden betrachtet, wird er auch immer als Patient gesehen. In solch schwierigen Konstellationen wird jede Aufgabe vom Pflegenden vorab bereits übernommen. Der Kranke hat gar nicht die Chance sie zu übernehmen. Vielleicht versucht man es auch einmal und der Kranke ist im ersten Moment überfordert – also geht die Aufgabe direkt in den Bereich des Pflegenden über. So verliert der Kranke immer mehr die Sicht auf seinen gesunden Anteil und die Fähigkeit sich selber einzuschätzen und auch Erfolge zu erzielen.

Der Pflegende wiederum überschreitet seine Kraft mehr und mehr. Er verliert seine eigenen Bedürfnisse immer mehr aus den Augen und verfängt sich in seiner eigenen Hilfsbereitschaft. Das Mitleid, die Trauer und die Hilflosigkeit spielen bei beiden mit und festigen diese ungesunde Abhängigkeit.

Wie gelingt es aus diesem Hamsterrad auszusteigen?

Oft handeln die Angehörigen leider sehr spät. Die gegenseitige Inanspruchnahme ist schon so weit fortgeschritten, dass sie beide die Möglichkeiten und Grenzen gar nicht mehr erkennen. Sie sind nicht mehr in der Lage zu sehen, was der Patient selber könnte und sehen auch ihre eigenen Grenzen nicht mehr. Hier ist es wichtig von Aussen Hilfe zu holen. Suchen Sie Kontakt zu Menschen die nicht emotional in die Pflege des Angehörigen eingebunden sind. Tauschen Sie sich aus mit anderen Pflegenden und holen Sie sich Entlastung.

Beginnen Sie damit, dass Sie sich der kranken Person wieder zumuten. Spielen Sie und Ihre Bedürfnisse wieder eine Rolle und fordern Sie den Angehörigen heraus. Achten Sie darauf, dass Sie auf Mitarbeit und Eigenverantwortung bestehen. Setzen Sie Grenzen. Manchmal ist es notwendig als Patient auch unangenehme Dinge zu ertragen, wenn dafür der Pflegende entlastet wird. Nutzen Sie Entlastungsangebote und befreien Sie sich von der Pflicht zu helfen. Achten Sie darauf, dass Sie den Angehörigen nicht kränker machen als er ist und fordern Sie die Person um zu sehen, was sie trotz allem noch leisten kann.

HilfestellungAlles so einfach?

Das kling nun alles sehr einfach und schnell gesagt. Leider ist das erlangen einer neuen Sichtweise keine einfache Aufgabe. Gerade wenn Menschen auch psychisch beeinträchtigt sind, wie bei Demenz, psychischer Krankheit oder grosser Belastung durch die Behandlung, fällt es schwer loszulassen. Angehörige die pflegen, tun dies auch für sich selbst. Es ist ihr Weg um mit der Situation umzugehen, sie handeln, entlasten, nehmen Anteil und haben so das Gefühl etwas tun zu können. Das schafft auch Anerkennung und Wertschätzung, sei es von sich selbst, dem Umfeld oder vom Gepflegten. Hier einen Schritt zurück zu treten und Hilfestellung anzunehmen oder den Betreuten selbst machen zu lassen, ist nicht einfach.

Daneben entstehen auch häufig Schuldgefühle. Wie kann ich den Nachmittag geniessen, wenn ich doch weiss, dass meinem Angehörigen die Situation unangenehm ist? Angehörige sprechen oft im Namen des Gepflegten und gehen die Pflegesituation aus ihrer Sichtweise an. Das ist nachvollziehbar, denn aus Ihrem Blickwinkel sehen sie hauptsächlich die Defizite des Betreuten.  Hier ist eine Einschätzung von Aussen, eine wohltuende Abwechslung und ermöglicht beiden Betroffenen die Situation neu zu beurteilen.

Ich wünsche Ihnen, dass es Ihnen gelingt, die ganze Person zu sehen und nicht nur den Anteil, der eingeschränkt ist.